Als wäre es eine Reise zurück in längst vergangene Zeiten, als Lugano noch «grande» war. Erst taucht Julien Vauclair (43) im Kabinengang auf. Eine freundliche, fast scheue Hockey-Legende mit der Erfahrung aus mehr als 900 NL-Partien und über 200 Länderspielen. Dann trägt einer die Tasche hinaus, der mit 50 noch immer lacht wie ein Lausbub und nach wie vor keine grauen Haare hat: Petteri Nummelin. Und schliesslich kommt Ivano Zanatta daher. Er ist mit 62 in Ehren ergraut.
Die drei spielen beim letzten Meistertitel in Lugano im Frühjahr 2006 eine zentrale Rolle: Julien Vauclair als Ingenieur der Defensive und Petteri Nummelin mit seiner offensiven Magie (17 Spiele, 33 Punkte in den Playoffs) bilden das beste Verteidigerpaar, das Lugano je hatte. Und Ivano Zanatta ordnet als Assistent und Diplomat das Chaos neben der Bande, als Trainer Larry Huras im Viertelfinal gegen Ambri nach einem 0:3-Rückstand gefeuert und durch Harold Kreis ersetzt wird.
Der Ingenieur der Defensive, der Künstler und der Diplomat: Seit der Meisterfeier von 2006 hat sich dieses ruhmreiche Trio in alle Winde zerstreut. Julien Vauclair bleibt zwar in Lugano und seine Familie lebt noch heute in der Stadt. Auch Ivano Zanatta hält es noch eine Weile aus. Aber Petteri Nummelin reist fort nach Amerika in die NHL. Ivano Zanatta zieht später auch in die Welt hinaus. Nach St. Petersburg, Prag, zwischendurch nach Ambri, dann wieder nach Russland und zuletzt ist er beim olympischen Turnier 2022 in Peking Nationaltrainer der Chinesen. Und nun sind die drei diese Saison wieder vereint. In Pruntrut, beim HC Ajoie. Am 13. Dezember hat Sportdirektor Julien Vauclair seinen tschechischen Trainer Philip Pesan gefeuert und selbst das Bandenkommando übernommen. Petteri Nummelin und Ivano Zanatta sind seine Kumpels und Assistenten.
Ein Wunder ist geschehen. Eine bescheidenere Bezeichnung ist nicht möglich. Mit Cheftrainer Julien Vauclair hat das Schlusslicht Ambri, Lausanne, die ZSC Lions, Davos und nun in 24 Stunden auswärts Langnau (3:2 n. V.) und daheim den SC Bern (6:3) besiegt. Mit dem gleichen Team, das zuvor 26 von 30 Spielen schon nach 60 Minuten verloren hatte.
Am besten bringt Petteri Nummelin die Wende auf den Punkt: «Es macht wieder Spass.» Dass er als Weltreisender des Hockeys mit Vergangenheit in Amerika und Japan ausgerechnet im Elsgau (altbernische Bezeichnung für die Ajoie) landete, ist der Vergangenheit mit Lugano geschuldet. Als Julien Vauclair telefonierte, habe er sofort zugesagt. Auf zu einem neuen Abenteuer! Und mit einem spitzbübischen Charme spricht er den Namen seines neuen Arbeitsortes Porrentruy aus: «Porrentruuuiiii.» Seinen Lebensmittelpunkt hat er heute in Norwegen und zu Hause fühlt er sich überall, wo Hockey gespielt wird. Bereits freut er sich auf die WM. Er ist auch Assistent des lettischen Nationaltrainers Harijs Witolinsch. Spielort Riga. Eine Heim-WM. Es wird rocken.
In 24 Stunden Siege gegen Langnau und den SC Bern, die Teams der alten Berner Herren (bis 1979 gehörte der Jura zum Kanton Bern). Vor allem der Triumph gegen den SCB hat deshalb eine kulturelle, historische und politische Dimension. Was diese zwei Siege noch aufwertet: Die Helden auf dem Eis sind zwei Spieler, die einst auch in Langnau und erst recht in Bern als untauglich für die höchste Liga taxiert worden sind. Die beiden Kanadier Philip-Michaël Devos (32, Vertrag bis 2025) und Jonathan Hazen (32, Vertrag bis 2024). Zu den Siegen über Langnau und den SCB haben sie vier Tore und vier Assists beigesteuert.
Seit 2015 hatten Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen bei Ajoie die zweithöchste Liga dominiert wie noch vorher und seither nie mehr zwei ausländische Spieler. Im Frühjahr 2018 läuft ihr Vertrag wieder einmal aus. Sie sind zu haben.
Aber niemand zeigt Interesse. Nicht einmal Langnau, wo der Sportchef an strikte Budgetvorgaben gebunden ist, und schon gar nicht in Bern. Ausländer aus der NLB? Wo kämen wir da hin! Die Erklärung für das Desinteresse ist im psychologischen Bereich zu finden. Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen haben das Pech, dass sie nie in der NHL und nie in Schweden, Finnland oder der KHL gespielt haben. Sie bringen den Schwefelgeruch der NLB nicht aus den Kleidern. Wenn der Sportchef einen Ausländer aus der NLB holt, hat er halt keine Ausrede, wenn es nicht funktioniert. Kein «aber er war in der NHL gut» oder «aber er hat an der WM auf höchstem Niveau überzeugt» oder «aber in Schweden hat er sich bewährt». Werden die Erwartungen nicht erfüllt, hat der Sportchef einen «B-Schluuch» verpflichtet und muss für Häme nicht sorgen. Das ist Ajoies Glück: Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen sind geblieben bis zum heutigen Tag.
Das 3:6 in Ajoie ist für den SC Bern eine Blamage auf und neben dem Eis. Der HC Ajoie, der für die erste Mannschaft mit gut sieben Millionen nicht halb so viel Geld ausgeben kann wie der SCB, hat die besseren Ausländer. Fünf stehen für diese Partie zur Verfügung. Philip-Michaël Devos, Jonathan Hazen, Frédéric Gauthier und Verteidiger T. J. Brennan erzielen je einen Treffer, Gillaume Asselin steuert zwei Assists bei. Für jeden dieser fünf würden die Fans in Bern den Hockeygöttern auf den Knien danken. Der SCB hat nur einen einzigen ausländischen Spieler unter Vertrag, der verlässlich Abend für Abend das Team wie ein Spielertrainer führt: Chris DiDomenico, inzwischen sogar Liga-Topskorer.
Wer sind Philip-Michaël Devos und Jonathan Hazen, die nun im Herbst ihrer Karriere auch in der höchsten Liga drauf und dran sind, nach dem NLB-Meistertitel von 2016, dem Cup-Sieg von 2020 und dem Aufstieg von 2021 ein weiteres Hockeymärchen zu schreiben? Zwei junge Männer checken im Spätsommer 2015 im Flughafen Montréal-Dorval für eine Reise nach Zürich-Kloten ein. Sie dürften niemandem aufgefallen sein. Zwei Studenten wohl, die zu einem Trip nach Europa aufbrechen. Jonathan Hazen erzählt, beim Einchecken in Montréal habe er seinen künftigen Sturmpartner zum ersten Mal ausserhalb eines Hockeytempels getroffen. «Wir kannten uns schon. Wir hatten im Juniorenhockey hin und wieder gegeneinander gespielt. Aber persönliche Kontakte hatten wir darüber hinaus noch keine gehabt.»
Und nun also die gemeinsame Reise nach Europa. In eine Stadt (Pruntrut), von der sie noch nie etwas gehört haben und zu einem Klub, dessen Name (HC Ajoie) ihnen nichts sagt. Beide suchen ihr Glück allerdings aus gleichem Grund ausgerechnet im Jura. Beide wollen sie noch ein wenig Geld mit Hockey verdienen. Philip-Michaël Devos, weil er schliesslich von irgendetwas leben muss. Jonathan Hazen, weil er noch nicht im Baugeschäft arbeiten mag, das sein Bruder vom Vater übernommen hat.
Dass dieses Abenteuer, das mit dem Einchecken im Flughafen Montréal begonnen hat, Jahre dauern und sie schliesslich in die höchste Liga führen wird, ahnen beide nicht. Die Reise ist noch nicht zu Ende. Auf Ajoie wartet das Drama Abstiegskampf. Die Playouts (zwischen dem 13. und 14.) sind wohl nicht mehr zu vermeiden. Sportdirektor Julien Vauclair hat Trainer Philip Pesan zu spät gefeuert. Womöglich folgt dann gar die Liga-Qualifikation gegen den Meister der Swiss League.
Julien Vauclair weiss sehr wohl, warum er sich Zeit lässt, um seine berufliche Zukunft zu regeln. Er hat im Januar 2020 einen Fünfjahresvertrag als Sportchef unterschrieben und ist dorthin zurückgekehrt, wo seine Karriere begonnen hat. Nun zeigt sich: Er ist als Trainer noch besser. Vielleicht sogar der meistunterschätzte Trainer der Liga.
Einmal mehr ein wunderbarer Kommentat zu unserer doch sehr wundersamen Hockeyszene! Sachverständig und ein paar feine Seitenhiebe, ohne jemanden von hinten zu attackiern!
Weiter so!